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Dimension: Beeinträchtigung im Sprachverstehen

Petra Schorat-Waly

Die Aktivität und Teilhabe von Studierenden in Lehr- und Lernsituationen lässt sich neben anderen unter dem Diversity Aspekt „Beeinträchtigungen im Sprachverstehen“ beschreiben (Corleis 2012). Problematisch ist in diesem Kontext der sogenannte „Leise Lärm“. Leiser Lärm ist ein unerwünschtes Geräusch, das „zu einer Belästigung, Störwirkung, Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit, besonderen Unfallgefahren oder Gesundheitsschäden führt“ (Maue et al. 2003, S. 17 zitiert nach Corleis 2012). Die Ursachen für Leisen Lärm bzw. Nebengeräusche in Lehrveranstaltungen sind mannigfaltig. Sie reichen vom Papierrascheln, über das Flüstern bis zum Zuspätkommen von Mitstudierenden. Auch wenn sich alle Studierende vom Leisen Lärm gestört fühlen, gibt es Studierendengruppen für die dieser eine Lernbarriere darstellt und die Partizipation bzw. Teilhabemöglichkeit unmöglich macht oder stark erschwert.

Leiser Lärm ist nicht nur eine behindernde Einflussgröße bei bestehenden Gesundheitsproblemen, wie z.B. bei peripheren oder zentralen Hörschädigungen, sondern auch bei der Kommunikation mittels Zweit- und Fremdsprache oder der Kommunikation mittels sprachlicher Varietät. Man spricht von einer sprachlichen Varietät, wenn eine Sprache verschiedene Ausdrucksformen aufweist. Dazu zählen nicht nur die verschiedenen Dialekte in Deutschland, sondern auch die Unterscheidung zwischen Hochdeutsch und Slang. Unter einer sprachlichen Varietät versteht man auch, wenn Engländer, Australier und US-Amerikaner als Muttersprache Englisch sprechen aber, eben unterschiedliche Varietäten. Diese Studierenden sind im besonderen Maße auf Ruhe angewiesen, nicht nur um das Gesprochene akustisch zu verstehen sondern auch, um inhaltliche Zusammenhänge zu begreifen (ebd.). Die verschiedenen Formen und Grade der Schwerhörigkeit sowie der Tinnitus bzw. Ohrgeräusche zählen zu den peripheren Hörschädigungen. Unter zentralen Hörschädigungen versteht man nicht nur die Hyperakusis bzw. Geräuschüberempfindlichkeit[1] sowie auditive Verarbeitungs- und/ oder Wahrnehmungsstörungen[2] sondern auch Teilleistungsschwächen wie die entwicklungsbedingte Lese-/Rechtschreibschwäche[3] oder das Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts)-Syndrom[4].

Infobox: Nachteilsausgleich
Studierende mit einer Hörschädigung haben unter Umständen Anspruch auf Nachteilsausgleich. Mehr Informationen finden Sie unter: https://www.hwg-lu.de/studium/barrierefrei.

Dies gilt nicht für ausländische Studierende bzw. Nicht-Deutsch-Muttersprachler aufgrund von Beeinträchtigung im Sprachverstehen!

Die Anzahl der Studierenden, die von Hörbeeinträchtigungen betroffen sind, ist höher als allgemein vermutet. Im Jahr 2011 (Schulze et al. 2013) wurde an den Universitäten Oldenburg, Groningen und der Hochschule Utrecht eine Studie durchgeführt, um zu untersuchen wie viele Studierende unter Hörminderungen, Ohrgeräuschen bzw. Tinnitus und/oder einer Geräuschüberempfindlichkeit leiden. Die Studie ergab, dass an allen drei Hochschulen mehr als 25% der Studierenden von einer Beeinträchtigung im Hören betroffen waren. Die meisten Studierenden (ca.16%) litten unter einer Geräuschüberempfindlichkeit. Von einer reinen Hörminderung waren ca. 4% der Studierenden betroffen. Die Frage nach der Belastbarkeit der erhobenen Daten ist nicht eindeutig zu beantworten. Zum einen können Verzerrungen aufgrund der recht geringen Rücklaufquoten (insgesamt 13%) nicht ausgeschlossen werden, zum anderen ähneln die Ergebnisse jedoch den Befunden anderer statistischer Analysen (Pilgrimm et al. 2000; Shield 2006; Streppel et al. 2006 zitiert nach Schulze et al. 2013, S. 96). Abweichungen zu anderen bekannten Erhebungen wie der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks erklären die Autoren der Studie mit den unterschiedlichen Erhebungsmethoden in den Fragebögen.

Verschiedene Untersuchungen ergeben, dass die Sprachverständlichkeit von Zweitsprachlern (Nicht-Muttersprachlern) bei Umgebungsgeräuschen erheblich abnimmt (Gath & Keith 1978; Buus et al. 1986; Takata & Nabalek 1990; Hojan et al. 1997; Mayo et al. 1997 zitiert nach Lazarus et al. 2007, S. 220 f.). Nach einer Untersuchung von Gath und Keith (1978  zitiert nach Lazarus et al. 1997, S. 219 f.) beträgt der Sprachverständlichkeitsverlust von ausländischen Studierenden 20-40%. Außerdem haben Nicht-Muttersprachler unter Störgeräuschen erhebliche Schwierigkeiten, Kontextinformationsgehalt zu verarbeiten, da für sie relevante Schlüsselwörter nicht zu erkennen sind (Florentine 1985 zitiert nach Lazarus et al. (1997, S. 220 f.). 8% aller Befragten in der Studieneingangsbefragung 2014/15 gaben an, dass ihre Muttersprache nicht Deutsch sei. In der Gesamtsicht wird deutlich, dass Studierende mit einer Beeinträchtigung im Sprachverstehen auf Ruhe angewiesen sind, um Gesprochenes zu verstehen.

Worauf ist bei der Gestaltung von Lehrveranstaltungen zu achten?
Die klassische Lehr- und Lernsituation hat sich mit der Bologna Reform und dem damit einhergehen-den geforderten Wandel „from teaching to learning“ geändert. Statt klassischer Vorlesungen rücken Lehrmethoden wie forschendes, problembasiertes oder projektorientiertes Lernen in Gruppen bzw. Teams in den Mittelpunkt. Bei diesen Lehrmethoden herrschen jedoch andere Bedingungen und Kommunikationsformen als in klassischen Vorlesungen vor (Corleis 2012). Oftmals ist die aktive Mitarbeit der Studierenden und/oder die Arbeit in Klein- bzw. Murmelgruppen gefordert. In diesen Veranstaltungsformen steigt potentiell die Wahrscheinlichkeit von Leisem Lärm und damit einhergehend auch das Risiko für Studierende mit Beeinträchtigungen im Sprachverstehen: sie können nicht im vollen Umfang an der Veranstaltung partizipieren. Wenn die Studierenden autonom in Kleingruppen arbeiten, sollten ihnen Möglichkeiten zum Arbeiten in ruhigen Bereichen (z.B. Gruppenarbeitsräume) zur Verfügung stehen.

Lehrpersonen können zwar an der Raumakustik nichts ändern. Trotzdem kann es helfen, Studierende für den Leisen Lärm zu sensibilisieren und zu bitten, Nebengeräusche möglichst gering zu halten (Corleis et al. 2012, S. 111). In großen Räumen mit einer hohen Studierendenzahl ist die Benutzung eines Mikrophons empfehlenswert. Auch in kleineren Räumen kann dies sinnvoll sein. Neben einer angemessenen Lautstärke ist es bei Filmmaterial sinnvoll, die Untertitel einzublenden. Räume sollten gut beleuchtet sein, damit hörbeeinträchtigte Studierende bei Bedarf von den Lippen ablesen können. Deshalb sollten sich Lehrende beim Sprechen immer den Studierenden zuwenden und nicht parallel zum Sprechen an die Tafel schreiben. Wenn im Plenum Fragen gestellt werden, ist es sinnvoll diese als Lehrperson zunächst zu wiederholen, bevor man sie beantwortet. Wenn Studierende sich aktiv an der Veranstaltung beteiligen bzw. diskutieren sollen, ist eine Sitzordnung im Viereck oder in U-Form empfehlenswert, soweit die Räumlichkeiten es zulassen. Damit werden „zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen“: Zum einen bleiben Studierende nicht räumlich „außen vor“ und ziehen sich womöglich aus der Diskussion zurück. Zum andern ermöglichen Sitzordnungen mit viel Sichtkontakt sich förderlich auf das Sprachverstehen aus. Bei regelmäßigen Gruppenarbeiten während einer Veranstaltung ist es empfehlenswert einen zusätzlichen Raum zu buchen, damit die Studierenden eine Ausweichmöglichkeit in einen ruhigen Veranstaltungsraum haben. Studierende, die darauf angewiesen sind, von den Lippen der Lehrenden und Kommiliton/innen abzulesen, können nicht parallel Mitschriften anfertigen. Sie sind im besonderen Maße darauf angewiesen vorab ein Handout zu erhalten. Davon profitieren aber auch viele andere Studierende. Schließlich ist das aktive Zuhören und Verstehen für Studierende mit Beeinträchtigungen im Sprachverstehen sehr anstrengend. Dies resultiert jedoch nicht aus der Konzentrationsfähigkeit der Studierenden, die im Vergleich zu anderen Studierenden keinesfalls vermindert ist. Durch ausreichende Pausen können sich Studierende gerade in längeren Veranstaltungen erholen. Ein positiver Nebeneffekt ist die Reduktion der sonst selbst eingelegten Trink- und Toilettenpausen, durch die leiser Lärm entsteht. Die meisten der oben genannten Tipps stammen aus den „Informationen für Lehrende zum Unterricht mit hörbeeinträchtigten Studenten“ der Universität Oldenburg (Clearingstelle "Hören" der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg 2011). Dort finden Sie auch weitere Informationen.

Infobox: (Hochschul)lehrende und Lärm
Auch bei (Hochschul)lehrenden kann es zu Hörproblemen aufgrund von Lärm kommen. Wenn Sie hierzu Rückfragen haben und/oder Hilfestellung benötigen wenden Sie sich bitte an das betriebliche Gesundheitsmanagement.

(Gekürzte Darstellung)

Literatur
Burre, A. (2006): Diagnose und Therapie auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen in der Praxis. In: Forum Logopädie (1/2016), S. 32–39.

Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (2011): Aktionen der hörsensiblen Universität Oldenburg. Oldenburg. Online verfügbar unter uol.de/hoersensible-uni/aktionen, zuletzt geprüft am 09.06.2020.

Clearingstelle "Hören" der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (2011): Informationen für Lehrende zum Unterricht mit hörbeeinträchtigten Studenten. Oldenburg. Online verfügbar unter uol.de/fileadmin/user_upload/hoersensible/download/Infomaterial/Informationen_fuer_Lehrende.pdff, zuletzt geprüft am 09.06.2020.

Corleis, B. (2012): Aktivität und Teilhabe von Studierenden unter dem Diversity-Aspekt "Beeinträchtigungen im Sprachverstehen" in Lehr-/ Lernsituationen an Hochschulen. Vortrag an der 41. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Hochschuldidaktik. Mainz. Online verfügbar unter www.blogs.uni-mainz.de/zq/files/2018/04/Doc-Corleis.pdf, zuletzt geprüft am 17.06.2020.

Corleis, B.; Klee, A.; Schulze, G. C. (2012): Wege aus dem leisen Lärm - Die Hörsensible Universität Oldenburg. In: Hörpäd (3/2012), S. 111–114. Online verfügbar unter www.uni-oldenburg.de/fileadmin/user_upload/hoersensible/download/Presse/HP32012.pdf, zuletzt geprüft am 08.05.2016.

Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen (2015a): Studiengangsbefragung. Internes Dokument. Ludwigshafen am Rhein.

Lazarus, H.; Sust, C. A.; Steckel, R.; Kulka, M.; Kurtz, P. (2007): Akustische Grundlagen sprachlicher Kommunikation. Berlin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag.

Leopold, W. (2009): New Brain Findings on Dyslexic Children. Online verfügbar unter www.northwestern.edu/newscenter/stories/2009/11/dyslexia.html, zuletzt geprüft am 12.05.2016.

Rosenkötter, H. (2003): Auditive Wahrnehmungsstörungen. Stuttgart: Klett-Cotta.

Schulze, G.; Rogge, J.; Jacobs, G.; Knot-Dickscheit, J.; Thoutenhoofd, E.; van den Bogaerde, B. (2013): Grundlagenstudie zur Erfassung der Hörfähigkeit von Studierenden an den Universtäten Oldenburg, Groningen und der Hochschule Utrecht. Empirische Sonderpädagogik. 1/2013. Online verfügbar unter www.psychologie-aktuell.com/fileadmin/download/esp/1-2013_20130430/ESP-1-2013_85-99.pdf, zuletzt geprüft am 08.05.2016.
 

Zitation
Schorat-Waly, Petra (2017): Dimension: Beeinträchtigung im Sprachverstehen. In: Rump, Jutta; Buß, Imke; Kaiser, Janina; Schiedhelm, Melanie; Schorat-Waly, Petra: Toolbox für gute Lehre in einer diversen Studierendenschaft. Arbeitspapiere der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen, Nr. 6. www.hwg-lu.de/arbeitspapiere

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[1] Hyperakusis oder Geräuschüberempfindlichkeit wird mit verschiedenen Krankheitsbildern, u.a. auch mit Tinnitus, der auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung oder dem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom in Verbindung gebracht. Sie tritt jedoch auch familiär bedingt, ohne weitere Krankheitsbilder auf. Kinder mit Hyperakusis sind überempfindlich gegenüber Lärm und lauten Geräuschen (Rosenkötter 2003, S.126 ff.)

[2] Burre (2006, S. 33) schreibt, dass bei Kindern mit einer Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung, die Stör- und Nutzschallperzeption gestört sein kann, d.h. sie haben Schwierigkeiten wesentliche Informationen aus einem Störschall zu selektieren.

[3] Leopold (2009) weist in ihrem Artikel „New Brain Findings on Dyslexic Children“ darauf hin, dass „children with developemental Dyslexia…have difficulties separating relevant auditory information from competing noise”.

[4] Laut Rosenkötter (2003, S. 167 ff.) leiden Kinder mit einer Aufmerksamkeits-Defizit-Störung oft auch unter einer Geräuschüberempfindlichkeit. Darüber hinaus ist oftmals, wie bei der Auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung, die Störschall-Nutzschall-Filterfähigkeit gestört.

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