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Steckbrief: Barrierefreiheit für Studierende mit Behinderungen/ chronischen Erkrankungen

Petra Schorat-Waly; Jutta Rump; Imke Buß; Janina Kaiser; Melanie Schiedhelm

Definition und Ausgangslage
Derzeit lernen an deutschen Hochschulen rund 2,5 Millionen Studierende (Fisseler 2014). Die Ergebnisse der 20. Sozialerhebung des Studentenwerks zeigten im Sommersemester 2012 Gesundheitsbeeinträchtigungen bei 13,6 % der Studierenden auf. Eine sehr starke Studienerschwernis liegt bei 7,6 % aller gesundheitlich beeinträchtigter Studierender vor (Middendorff et al. 2013, S. 37). Doch was heißt eigentlich „behindert“ und wer sind die Studierenden mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen? In der Sozialgesetzgebung (SGB IX) wird eine Behinderung wie folgt definiert:

„Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist (§ 2 Abs. 1).“

In dem medizinisch gefassten Behinderungsmodell wird der Zustand des behinderten und dadurch von der erwarteten Norm abweichenden Menschen betont. Dieser Mensch wird hier als Problem angesehen, da er aufgrund seiner Behinderung nicht mit der Umwelt zurechtkommt. Diese Sichtweise ist nicht unproblematisch, da sie Menschen tendenziell stigmatisiert und segregiert (Fisseler 2014, S. 83).

Die Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen verfolgt das soziale Modell von Behinderung. „Dieses Modell lenkt die Sichtweise – weg von dem Menschen mit Beeinträchtigung – hin zu den Barrieren in der Umwelt, die die Teilhabe an der Gesellschaft behindern. Besonders anschaulich verdeutlich das der von der „Aktion Mensch“ im Rahmen der „Aktion Grundgesetz“ formulierte Slogan „Behindert ist man nicht. Behindert wird man“ (Schorat-Waly und Oechler 2014, Vorwort).

Auswirkungen auf Studiensituation und Studienerfolg
Bei 94% der gesundheitlich beeinträchtigten Studierenden ist ihre Behinderung oder Erkrankung nicht sofort ersichtlich. Erst wenn Probleme während des Studienverlaufs auftreten, geben sich die Betroffenen zu erkennen. Dazu zählen beispielsweise 45% der beeinträchtigten Studierenden, bei denen sich ihre psychische Beeinträchtigung am stärksten auf das Studium auswirkt oder auch die 20% der Studierenden, die aufgrund ihrer chronisch-somatischen Erkrankung bei der Durchführung des Studiums und/oder dem Ablegen von Prüfungen gegenüber ihren Mitstudierenden benachteiligt sind (Deutsches Studentenwerk 2012). Berthold und Leichsenring (2012) weisen darauf hin, dass gerade die Erkrankungen und Leistungseinschränkungen im Hochschulbereich tendenziell steigen. Gründe dafür sind zum einen die wachsende Aufmerksamkeit für Einschränkungen in der Schule (z.B. Legasthenie) und zum anderen ein vermehrtes Auftreten einiger chronischer (Diabetes, Allergien) und psychischer Erkrankungen unter jungen Menschen.

An der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen haben insgesamt 11,5% der Befragten angegeben, dauerhaft gesundheitlich und/oder körperlich beeinträchtigt zu sein (Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen 2015). Betrachtet man detaillierter, von welchen Beeinträchtigungen die Studierenden betroffen sind, so wird am häufigsten angegeben, von einer physischen Beeinträchtigung betroffen zu sein, die im Hochschulalltag allerdings nicht sichtbar ist (7,5% aller Studierenden).

Auswertungen zur Studiensituation (Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen 2015) der dauerhaft gesundheitlich und/oder körperlich beeinträchtigten Studierenden an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen zeigen, dass verglichen mit den Studierenden ohne Beeinträchtigung die Studierenden mit Behinderung signifikant mehr Unterstützungsbedarf bezüglich sozialer Integration, (wissenschaftlicher) Leistungsanforderungen, Studiengangsassistenz, Beteiligung an Forschungsprojekten sowie Kinderbetreuung haben. Diese Unterstützungsbedarfe resultieren oft aus der Struktur des Studienalltags, der Kommunikation in Lehrveranstaltungen sowie baulichen Barrieren und nicht daraus, dass die Studierenden den Anforderungen eines Studiums nicht gewachsen sind. Dazu kommt, dass Studierende mit Beeinträchtigungen ihre eigene Leistung tendenziell unterschätzen. Denn trotz einer vergleichbaren durchschnittlichen Note der Hochschulzugangsberechtigung (2,2 bei Studierenden ohne Einschränkungen vs. 2,3 bei Studierenden mit Handicap) schätzen die Studierenden mit Beeinträchtigungen ihre Schulleistung um 40% häufiger zum unteren Drittel gehörend ein (11% gegenüber 6,8% der Studierenden ohne Einschränkungen) (Berthold und Leichsenring 2012). Berthold und Leichsenring (ebd.) vermuten, dass dies als deutlicher Indikator dafür gesehen werden kann, dass Studierende mit Behinderungen zwar ähnlich hohe Leistungen erbringen wie ihre Kommilitonen und Kommilitoninnen ohne Einschränkung. Allerdings sind Studierende mit Behinderungen in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit oft verunsichert, so dass sie sich schlechter einschätzen.

Es gibt auch Themen die im Studierendenbarometer (Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen 2015b) von den Studierenden mit und ohne Handicap ähnlich eingeschätzt wurden: So haben sie beispielweise eine vergleichbare Meinung in Bezug auf ein Teilzeitstudium: 26% der Studierenden mit Behinderung und 25,8% der Studierenden ohne Handicap halten dieses Thema für sehr dringlich oder eher dringlich. Besonders die Studierendengruppe der beruflich Qualifizierten wünscht sich die Ermöglichung eines Teilzeitstudiums zur Verbesserung ihrer Studiensituation. Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass sich alle Studierenden mehr Flexibilität hinsichtlich der zeitlichen Ausgestaltung ihres Studiums wünschen. Man könnte allenfalls eine Arbeitshypothese aufstellen, dass es graduelle Unterschiede gibt, wie die Studierendengruppen ihre Wünsche begründen, z.B. hinsichtlich der zeitlichen Vereinbarkeit von Studium & (Neben-)erwerbstätigkeit vs. den Problemlagen, die sich aus einem Studium mit Behinderung ergeben können (aber nicht müssen). Dazu können ein möglicherweise erhöhter Zeitbedarf, um an barrierefreie Lernmaterialien zu gelangen sowie diese zu rezipieren zählen oder auch die Vereinbarkeit von Studium mit medizinisch notwendigen Behandlungen, wie Physiotherapie. Das wurde im Studierendenbarometer jedoch nicht detailliert erhoben. Bei diesen Überlegungen gilt es zudem zu berücksichtigen, dass auch Studierende mit Behinderung ihr Studium finanzieren müssen und dabei in der Regel vor noch größeren Herausforderungen als ihre nichtbehinderten Kommilitonen stehen, z.B. in Bezug auf die Integrationsmöglichkeiten in den Arbeitsmarkt oder aufgrund höherer behinderungsspezifischer Lebenshaltungskosten.

Zum Schluss sei drauf hingewiesen, dass Studierende mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen ihre Studien- und Prüfungsleistungen inhaltlich zu den gleichen Bedingungen wie ihre nicht beeinträchtigten Kommilitonen und Kommilitoninnen erbringen müssen. Sofern sie bei der Durchführung ihres Studiums und/oder dem Ablegen von Prüfungen infolge ihrer Beeinträchtigung und/oder Behinderung gegenüber ihren Mitstudierenden benachteiligt sind, haben sie einen Anspruch auf Nachteilsausgleiche. Dieser Anspruch ist gesetzlich verankert. Die Schutzbestimmungen für Studierende mit Behinderung sind im § 25 der Allgemeinen Prüfungsordnung aufgeführt. Die Koordinierungsstelle für Chancengleichheit und Vielfalt in Zusammenarbeit mit der Hochschuldidaktik und dem Behindertenbeauftragten für Studierende der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen stellt auf der Seite www.hwg-lu.de/barrierefrei entsprechende Tipps und Informationsmaterial zur inklusiven Gestaltung der Lehre zur Verfügung. Im Downloadbereich findet man den Leitfaden "Studieren mit Handicap" für Dozentinnen und Dozenten der Hochschule. 

Literatur
Berthold, C.; Leichsenring, H. (Hg.) (2012): CHE: Diversity Report: Der Gesamtbericht. Online verfügbar unter

www.che-consult.de/fileadmin/pdf/publikationen/CHE_Diversity_Report_Gesamtbericht_komprimiert.pdf, zuletzt geprüft am 25.04.2016.

Deutsches Studentenwerk (2012): Beeinträchtigt studieren - Datenerhebung zur Situation Studierender mit Behinderung und chronischer Krankheit 2011. Broschüre zur Datenerhebung. Berlin. Online verfügbar unter best-umfrage.de/wp-content/uploads/2016/01/BEST_barrierefrei_2011.pdf, zuletzt geprüft am 25.04.2016.

Fisseler, B. (2014): Barrierefreie Hochschuldidaktik. In: Neues Handbuch Hochschullehre (F. 4.4).

Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen (2015): Studierendenbarometer. Hochschulweite Studierendenbefragung. Wintersemester 2014/2015. Unveröffentlichtes Dokument. Unter Mitarbeit von Keller, A. Evaluationsbeauftragte der Hochschule. Ludwigshafen am Rhein.

Middendorff, E.; Apolinarski, B.; Poskowsky, J.; Kandulla, M.; Netz, N. (2013): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2012: 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch das HIS-Institut für Hochschulforschung. Online verfügbar unter: www.sozialerhebung.de/download/20/soz20_hauptbericht_gesamt.pdf, zuletzt geprüft am 25.04.2016.

Schorat-Waly, P.; Oechler, M. (2014): Studieren mit Handicap: Leitfaden für Dozentinnen und Dozenten der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen.

Zitation
Schorat-Waly, Petra; Rump, Jutta; Buß, Imke; Kaiser, Janina; Schiedhelm, Melanie (2017): Steckbrief: Studierende mit Behinderungen und/ oder chronischen Erkrankungen. In: Rump, Jutta; Buß, Imke; Kaiser, Janina; Schiedhelm, Melanie; Schorat-Waly, Petra: Toolbox für gute Lehre in einer diversen Studierendenschaft. Arbeitspapiere der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen, Nr. 6. www.hwg-lu.de/arbeitspapiere

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