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Klara Marie Faßbinder-Gastprofessur: Dr. Sina Motzek-Öz im Gespräch

Dr. Sina Motzek-Öz, Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Sozialwesen der Universität Kassel, lehrte im Sommersemester 2020 im Rahmen der Klara Maria Faßbinder-Gastprofessur für Frauen und Geschlechterforschung des Landes Rheinland-Pfalz unter dem Arbeitstitel „Geschlecht, Diversität und Handlungsmacht“ am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen (HWG LU). Dort hielt die promovierte Sozialarbeiterin neben verschiedenen Impulsvorträgen, unter anderem zu inklusiver und diskriminierungskritischer Hochschullehre, zwei (virtuelle) Lehrveranstaltungen: im Bachelorstudiengang Soziale Arbeit gab Motzek-Öz eine „Einführung in Theorie und Praxis interkultureller und sozialpädagogischer Beratung“, im entsprechenden Masterstudiengang das Seminar „Forschen im Kontext von Mehrsprachigkeit und Interkulturalität“. In ihrer Antrittsvorlesung referierte Motzek-Öz über „Empowerment und Diversität: Theoretische und methodische Suchbewegungen um zwei zentrale Konzepte für eine geschlechterbewusste Soziale Arbeit“. Dr. Elena Wassmann sprach mit Dr. Sina Motzek-Öz über die Herausforderungen einer Gastprofessur im Zeichen von Corona, die inhaltlichen Akzente ihrer Lehre und künftige Herausforderungen.

Welche Bedeutung hatte für Sie die Klara Marie Faßbinder-Gastprofessur?

S. Motzek-Öz: Zunächst einmal habe ich mich total gefreut, als das Dekanatsteam mit dem Thema an mich herangetreten ist. Es war eine schöne Möglichkeit für mich, thematisch an die Anfänge meines wissenschaftlichen Arbeitens anzuschließen und mich wieder grundlegender mit Geschlecht und Intersektionalität zu beschäftigen. Ich habe mich ja im Rahmen meiner Promotion bei Professorin Dr. Elisabeth Tuider an der Universität Kassel intensiv mit geschlechter- und differenztheoretischen Grundlagen und Debatten beschäftigt. Das hat meine Perspektive sehr stark geprägt. Mittlerweile bin ich in Kassel in der Sozialen Arbeit und arbeite eng mit Professorin Dr. Manuela Westphal zusammen, die neben der Geschlechterforschung auch in der Migrationsforschung verortet ist. Dadurch habe ich mich immer wieder auch mit den (sozial-)pädagogischen Zusammenhängen von Migration und Geschlecht auseinandergesetzt.

Für mich hat sich mit der Gastprofessur ein Zeitfenster aufgetan, durch das ich nochmal intensiv in das Thema „Geschlecht“ eintauchen konnte. Gleichzeitig war es nach meiner langen Tätigkeit als Lehrbeauftragte für besondere Aufgaben in Kassel für mich eine tolle Möglichkeit, mich in einem anderen Hochschulkontext auszuprobieren.

Das Sich-Ausprobieren in einem anderen Hochschulkontext musste durch die Corona-Pandemie unter ganz ungewohnten, erschwerten Bedingungen stattfinden. Wie haben Sie das empfunden?

Tatsächlich hat die Pandemie zuerst alle Pläne und Absprachen über den Haufen geworfen: Neben meinen eigentlichen Lehrveranstaltungen waren Gastvorträge, die Antrittsvorlesung und ein Workshop mit Studierenden geplant. Das konnte alles nicht wie vorgesehen stattfinden. Und auch privat – ich kam gerade frisch aus der Elternzeit und hatte die Betreuung meiner Tochter rund um die Gastprofessur herum organisiert – war die Planung hinfällig. Es stand sogar kurz im Raum, ob die Gastprofessur nicht ganz verschoben werden sollte. Im Nachhinein bin ich allerdings froh, dass wir das nicht gemacht haben. Ich hatte nämlich den Luxus, dass ich mich aufgrund meiner relativ geringen Lehrverpflichtung sehr intensiv in die Möglichkeiten digitaler Lehre einarbeiten konnte, so dass ich bereits Ende März mit beiden Seminaren einsteigen und konstruktiv arbeiten konnte. Wir haben beispielsweise mit Videokonferenzen, digitaler Gruppenarbeit und Reflexionsübungen in Breakout-Rooms gearbeitet und die Studierenden konnten sich mit audiovisuellen Materialsammlungen auf die Sitzungen vorbereiten. Einen intensiven Kontakt zu den Studierenden zu halten, war trotzdem nicht ganz einfach – insbesondere, da ich und auch einige Studierende im Masterstudiengang Soziale Arbeit ganz neu an der Hochschule waren. Unter anderem Lerntagebucheinträge in Online-Portfolios waren dann aber ein gutes Medium, um in den engeren persönlichen Austausch zu kommen.

Im Nachhinein habe ich viel gelernt und einige digitale Formate kennengelernt, die ich auch unter „normalen Umständen“ gerne beibehalte.

Ihre Gastprofessur stand unter dem Arbeitstitel „Geschlecht, Diversität und Handlungsmacht: Spannungsfelder, Irritationen, fachliche Herausforderungen und Möglichkeiten in sozialen Handlungsfeldern“. Wie haben Sie dieses große Thema inhaltlich gefüllt?

Die Themen Geschlecht, Diversität und Handlungsmacht begleiten mich in meiner sozialarbeiterischen wie auch meiner wissenschaftlich-theoretischen Tätigkeit. In der Lehre habe ich dies unter dem Schlagwort ‚Interkulturalität‘ aufgegriffen. Gerade in sogenannten interkulturellen Situationen wird deutlich, wo – auch im professionellen Handeln – oft Verkürzungen stattfinden, oder auch vergeschlechtlichte Wahrnehmungen, beispielsweise von der Migrantin. Bei den Masterstudierenden ging es zum Beispiel um die Frage „Wie können wir Forschung gestalten und dabei auf Mehrsprachigkeit und Interkulturalität Rücksicht nehmen?“ Dazu haben wir auch geschlechtertheoretische Konzepte wie zum Beispiel das des situierten Wissens (Haraway) herangezogen und bearbeitet. Wir wollten uns damit auseinandersetzen, inwiefern der Standpunkt des Forschenden die Forschung und den betrachteten Forschungsgegenstand beeinflusst.

Die Frage nach den Möglichkeiten interkulturell-reflexiver Sensibilisierung und Professionalisierung war unter anderem auch Thema eines Gastvortrags im Studiengang Pflegepädagogik, den ich tatsächlich halten konnte. Der Fokus auf Pflege war das auch für mich neu und sehr spannend.

Die Verbindung von Interkulturalität, Diversität und Geschlecht zieht sich wie ein roter Faden durch Ihr wissenschaftliches Arbeiten. Immer mit dem Fokus auf die weibliche Perspektive?

Häufig ja, aber durch die aktuelle Fluchtmigration hat sich meine Perspektive erweitert um die Gruppe der männlichen Geflüchteten, die in der öffentlichen Wahrnehmung, aber auch tatsächlich, mit zwei Dritteln einen Großteil der derzeitigen Fluchtmigration ausmachen. Auch hier lassen sich sehr stark vergeschlechtlichte und kulturalisierte Zuschreibungen beobachten: die der fremden, angstbesetzten Männlichkeit.

Sie haben sich in Ihren Lehrveranstaltungen intensiv mit dem Thema interkultureller Beratung beschäftigt. Natürlich kann man die Inhalte eines ganzen Semesters nicht auf wenige Sätze zusammenfassen, aber was gilt es hier besonders zu beachten?

Wichtig ist meines Erachtens, dass die Beratenden nicht automatisch interkulturelle Zuschreibungen machen, bloß weil ihr Gegenüber ein*e zugewanderte*r Klient*in ist. Auch in professionellem Handeln ist es wichtig, sich in einer Art Vogelperspektive der eigenen oft essentialisierenden, kulturalisierenden oder vergeschlechtlichten Bilder bewusst zu sein und sich auch mit Fokus auf Mikro- und Differenzierungspratiken zu fragen: Wann werden Situationen ‚interkulturell‘ und was passiert dadurch?

Wir müssen genau hinschauen, wie Kultur relevant wird, und ob sie in der spezifischen Situation überhaupt relevant ist oder ob es nicht vielmehr ganz andere Erklärungsansätze auf die akute Problemlage anzuwenden gilt.

Sie haben auch einen Impulsvortrag zu inklusiver und diskriminierungskritischer Hochschullehre gehalten. Was war die Quintessenz?

Meine Quintessenz war, Hochschullehre vor allem auch als soziale Situation zu begreifen, als Zusammentreffen von unterschiedlichen Bildungsbiografien von Studierenden und Lehrenden, welche unterschiedliche Voraussetzungen für Lernen und Lehren mitbringen sowie unterschiedlich von Diskriminierung betroffen sein können. ‚Inklusive Lehre‘ als sehr umfassender Begriff meint dabei, dass alle mit unterschiedlichen Möglichkeiten an die Hochschule kommen und wir uns fragen müssen, wie können wir sie dort abholen, wo sie stehen. ‚Diskriminierungskritische Lehre‘ war mir darüber hinaus wichtig, weil das von Seiten der Hochschulen oft ausgeblendet wird. Als Lehrende, die mit einem Kopftuch auffällt und unterschiedliche Assoziationen hervorruft, setze ich mich auch aus einer persönlichen Perspektive mit Diversität an der Hochschule auseinander.

Liegt hier aus Ihrer Sicht viel im Argen?

An Hochschulen herrscht oft die Annahme, dass Diskriminierung und Rassismus aufgrund des relativ hohen Bildungsstandes der Studierenden, Lehrenden und der Mitarbeiterschaft keine größere Rolle spielt. Empirische Studien belegen jedoch, dass Hochschulen nur scheinbar über Vorurteile und Diskriminierung ‚erhaben‘ sind. Tatsächlich, das zeigt zum Beispiel eine Studie der Uni Bielefeld von 2016, gibt es eine relativ hohe Zahl an diskriminierenden Vorfällen auch im Kontext von Seminaren und Vorlesungen.

An der HWG hat aber bereits eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema diversitätssensibler Lehre stattgefunden. Es liegt auch ein Arbeitspapier mit didaktischen Überlegungen vor, auf dem ich aufbauen konnte. Auch meine persönlichen Erfahrungen mit Studierenden und Lehrenden in Ludwigshafen sind sehr positiv. Hier gilt es meines Erachtens nur, die Ausschlussprozesse auch im Hinblick auf sexuelle Orientierungen und natio-ethno-kulturelle Differenz noch mehr in den Blick zu nehmen und auch die Lehrenden zu einer Reflexion ihrer eigenen Eingebundenheit in gesellschaftliche Machtungleichgewichte und der Auswirkungen auf ihre Lehre und die Wahrnehmung ihrer Studierenden anzuregen. Gerade in den sozialen und gesundheitsbezogenen Studiengängen finde ich es zentral, sich Gedanken zu machen, welches Bild zum Beispiel von Familie oder von Gesellschaft wir als Lehrende reproduzieren, und ob sich durch unsere eigene Position dort Einseitigkeiten einschleichen.

In ihrer Arbeit beschäftigen Sie sich viel mit der psychischen Verfasstheit von Migrantinnen und dem Thema (Ohn)Macht. Warum dieser Fokus?

Als Sozialarbeiterin war ich im Bereich der Sozialpsychiatrie tätig und habe mich intensiv mit der interkulturellen Öffnung des Trägers beschäftigt. Daraus habe ich auch das Thema für meine Promotion entwickelt, in der ich Interviews mit Frauen geführt habe, die aus der Türkei nach Deutschland migriert sind und die an depressiven Beschwerden leiden. Es gibt hier eine eklatante Lücke, die mir immer bewusster wurde: In der Psychiatrie und Psychotherapie werden Migrantinnen mit psychischen Beschwerden häufig kulturalisierend und als schwer zu erreichende Gruppe sehr defizitär betrachtet. In der Migrationsforschung, die sich durch Konzepte wie Transnationalität, Diversität/Intersektionalität und Handlungsmacht (Agency) auszeichnet, werden gerade sehr vulnerable, mitunter mehrfachbenachteiligte Gruppen mittlerweile häufig ausgeblendet. Mich reizte es, der öffentlichen und teilweise auch fachlichen stereotypen Wahrnehmung dieser Frauen als passive Opfer eine differenzierte, sozialwissenschaftliche Analyse ihrer biografischen Auseinandersetzung mit Handlungsmacht und Vulnerabilität entgegenzusetzen. Tatsächlich konnte ich zeigen, dass das Gesundheitshandeln der Frauen, das professionell häufig als inadäquat wahrgenommen wird, begründetes Handeln angesichts ihrer Ressourcen, Möglichkeiten und Handlungsorientierungen darstellt. Unter anderem ist es durch transnationale und/oder religiöse Bewältigungsstrategien geprägt.

Die Gastprofessur in Ludwigshafen neigt sich dem Ende zu. Was nehmen Sie für sich mit?

Ich nehme sehr positive Erfahrungen mit engagierten Studierenden und mit tollen Kolleg*innen mit, die mich sehr offen und herzlich willkommen geheißen haben. Inhaltlich nehme ich die Einsicht mit, dass es weiter viel zu tun gibt im Themenfeld Geschlecht und Diversität. Es liegen zwar sehr ausdifferenzierte Konzepte und Modelle vor, sei es im Kontext der Praxis, der Forschung Sozialer Arbeit oder auch in den Hochschulen. Trotzdem setzen sich Ungleichheiten in der Gesellschaft fort – im Kontext von Geschlecht wie Diversität oder Migration. Angesichts des gesellschaftlichen Rechtsrucks sollten wir Ziele der Gleichberechtigung noch stärker verfolgen und einfordern, nicht nur in der Forschung, sondern auch in der (Hochschul-)Politik. Gerade die Soziale Arbeit sehe ich hier in der Pflicht, dies einzufordern.

Auf der Ebene der Lehre nehme ich mit, dass manchmal Potentiale auch dort liegen, wo wir sie nicht vermuten: In der digitalen Lehre während der Pandemie sanken Hürden für Studierende mit Erziehungs-/Pflegeverantwortung und Studierende mit Beeinträchtigungen. Umgekehrt darf man natürlich auch die nicht aus dem Blick verlieren, die man – beispielsweise aufgrund mangelnder technischer Ausstattung – durch den Einsatz digitaler Lehre ausschließt.

Welche Projekte warten nun auf Sie?

Ich steige wieder an der Uni Kassel ein und schließe im Rahmen meiner Stelle als Lehrkraft für besondere Aufgaben noch ein kleineres Forschungsprojekt ab, das ich in Zusammenarbeit mit meiner Kollegin Professorin Dr. Manuela Westphal mit Studierenden durchgeführt habe. Es geht um Multiprofessionalität im Kontext der schulischen Integration von jungen Geflüchteten. Im Herbst trete ich dann eine Postdoktorandinnenstelle im DFG-Forschungsprojekt „Wandel und Dynamik familiärer Generationsbeziehungen im Kontext von Flucht und Asyl“ unter Leitung von Prof. Dr. Manuela Westphal an.

Alles Gute und viel Erfolg hierbei! Und vielen Dank für das Gespräch!

(Interview: Elena Wassmann)